Ein Buch passend nicht nur zum Winterwetter, sondern auch zu vielen zeitgenössischen Themen, sozusagen druckfrisch vom Winterplaneten: Heute erscheint »Die linke Hand der Dunkelheit«, der große Science-Fiction-Klassiker von Ursula K. Le Guin aus dem Jahre 1969, in neuer Übersetzung durch Karen Nölle bei Fischer Tor.
Der preisgekrönte Roman handelt von Genly Ai, dem Gesandten eines galaktischen menschlichen Weltenbundes, der die androgynen, immer wieder kontrolliert ihr Geschlecht wechselnden Menschen des eiskalten, rauen Winterplaneten Gethen vom Beitritt in diesen Bund überzeugen soll. Aber aufgrund seiner eigenen, permanenten und eindeutigen Sexualität ist er das Alien auf Gethen. Außerdem wird er in die komplizierten Intrigen der Länder und der Herrschenden verstrickt, was inmitten von Schnee und Eis sein Leben in Gefahr bringt …
Es ist der Wahnsinn, wie scharfsinnig und taufrisch sich »Die linke Hand der Dunkelheit« ein halbes Jahrhundert nach der amerikanischen Erstveröffentlichung noch liest, zwischen aktuellen Gender-Debatten und Klimakrise-Diskussionen, mit 1969 ebenso wichtigen Gedanken zum Feminismus und dem Imperialismus wie in 2023. Das liegt sicher auch an der Mischung aus Science-Fiction, Social-Fiction und selbst Science-Fantasy, aus exotischem, spannendem Abenteuer und kühner, kluger Gesellschaftsphilosophie, vereint auf und durch den Winterplaneten.
Der Begriff visionär hat sich aufgrund des inflationären Gebrauchs in Marketingsprech abgenutzt, aber »The Left Hand of Darkness« von Ursula K. Le Guin war und ist wahrlich ein visionäres Meistewerk, das durch eine Neuübersetzung des Genre-Game-Changers zurecht geadelt wird.
Nun hat Fischer Tor nach der »Erdsee«-Neuausgabe (wahlweise als Hardcover-Gesamtausgabe mit Illustrationen von Maestro Charles Vess oder in zwei preisgünstigeren Blanko-Paperbacks mit Vess-Covern), dem Doppelband »Grenzwelten« (mit dem SF-Klassiker »Das Wort für Welt ist Wald«) und »Freie Geister« (aka »Der Planet der Habenichtse«), allesamt neu übertragen, schon eine kleine hübsche Le Guin-Bibliothek im Programm aufgebaut. Tut dem deutschsprachigen SF-Markt gut, und ich kann jedem die erstmalige oder wiederholte Lektüre von »Die linke Hand der Dunkelheit« nur ans Herz legen. Ist definitiv schon jetzt ein Wiederlese- und somit auch Lese-Highlight meines persönlichen Bücherjahres 2023.
Ich hab mich übrigens neulich erst in einer meiner eigenen Climate-Fiction-Kurzgeschichten (postapokalyptisch, tierische Perspektive) vor der großen Grand Dame der Fantastik verbeugt, ziemlich am Anfang der Story, und zwar in dieser Passage:
»Diesen Planeten, der mehr herrliches Blau kennt als jemals zuvor. Unser Königreich erstreckt sich weiter denn je, und wenn wir Meer oder Wasser sagen, meinen wir Welt, und umgekehrt. Das Wort für Welt ist Wasser.«
Oh, und hat jemand nach einem Stapel der aktuellen Le Guin-Ausgaben gefragt, zwischen Erdsee und Winterplanet? Bitte sehr …