Leseprobe: Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen (1)

Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen, Atlantis 2015
Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen, Atlantis 2015

Heute gibt es mal eine erste längere Leseprobe zu »Sherlock Holmes und die tanzenden Drachen«, um die Wartezeit zu überbrücken und die Verzögerung in der Herstellung zumindest ein bisschen zu kompensieren. Kokain für die Holmesianer, oder so. Bei der folgenden Textstelle handelt es sich um den Anfang des Siebten Kapitels, in dem es zunächst um die Therapie mithilfe von Kaffee und Tinte und Kameradschaft geht – natürlich 100 Prozent spoilerfrei, sieht man einmal davon ab, dass Watson eine ausgesprochen harte Nacht hinter sich hat … 

Am nächsten Morgen erwachte ich zu fortgeschrittener Stunde und zum Gejammer einer Katze, der irgendwo in der Nachbarschaft Schreckliches angetan wurde, so, wie das arme Tier wehklagte. Ich musste mich erst noch etwas weiter von den Eindrücken meiner erwartungsgemäß reichlich wüsten und wirren Träume entfernen, um zu erkennen, dass es sich nicht um die Laute einer gequälten Katze handelte, sondern um das improvisierte Geigenspiel meines Mitbewohners. Holmes saß offensichtlich im Salon und frönte einmal mehr seinen wechselhaften, stark von seiner Laune und Verfassung abhängigen musikalischen Neigungen, ohne dabei viel auf die Schönheit seines Spiels zu geben. Das soll nun keineswegs heißen, dass Holmes nicht spielen konnte. Er konnte sogar ganz famos den alten deutschen und ungarischen Meistern nacheifern und das Herz mit seinen Interpretationen von Pugnani oder de Sarasate erwärmen – wenn er das denn wollte. Wenn er die Geige, so wie an diesem Vormittag, jedoch nur dazu missbrauchte, seine langen blassen Finger zu beschäftigen, derweil er über die Besonderheiten eines Falles nachgrübelte, der ihn gerade beschäftigte, und abwesend über die Saiten kratzte und ihnen schiefe Töne entlockte, klang es mehr nach der Hinterhofweihnachtssonate des Katzenjammerorchesters oder einer ganzen Rotte schlecht geölter Gartentore, die sich an Händel versuchten.

Trotz allem hatte das schiefe Geleier etwas ungemein Vertrautes, als ich in meinen Hausmantel und meine gefütterten Pantoffeln schlüpfte und mit einem stechenden Kopfschmerz in das gemeinschaftliche Wohnzimmer schlurfte, das wie der Himmel über der Stadt angenehm duster war.

»Guten Morgen, Watson!«, begrüßte mich Holmes, der, wie zu erwarten, ebenfalls im Morgenmantel in seinem Lieblingssessel saß, die Geige auf den spitzen Knien. Er schmunzelte leicht ob meiner augenmerklich schlechten Verfassung, sagte aber sonst nichts weiter dazu, dass ich es einmal nicht fertig angekleidet an den Frühstückstisch schaffte und stattdessen seinem modischen Beispiel folgte. »Mrs. Hudson bringt gleich frischen Kaffee«, meinte er lediglich jovial und strich versonnen über die Saiten seines Instruments, das öfter mit Missbrauch denn Muse konfrontiert wurde. »Ich habe ihr gesagt, sie soll ihn heute besonders stark machen – ich nehme an, das ist in Ihrem Sinne. Die gute Mrs. Hudson sah im Übrigen etwas verstimmt aus und murmelte etwas von schlechtem Umgang und noch schlechterem Einfluss.« Holmes sah mich in gespieltem Erstaunen an. »Können Sie mir sagen, wer von uns damit gemeint war? Ausnahmsweise bin ich mir nämlich nicht ganz sicher.«

Ich grunzte unwirsch und zog mich kommentarlos in mein Zimmer zurück, um mich zum neuerlich einsetzendem Gejammer von Holmes’ gequälter Geige zu waschen, zu rasieren und anzuziehen. Das eigensinnige Spiel des Detektivs verstummte, ehe ich den Rasierschaum mit dem Dachshaarpinsel über meine untere Gesichtshälfte verteilt hatte, was ich als Zeichen dafür nahm, dass Mrs. Hudson bereits das Frühstück auftrug. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, der mich aus der Ferne lockte, bestätigte diese Annahme und ließ mich geschwind in meine Hosen und mein Hemd schlüpfen.

Als ich in den Salon zurückehrte, standen Kaffee, Eier, Würstchen und Speck, Toast, Butter und Brombeermarmelade wie ein einladendes Versprechen auf dem großen Esstisch im Salon. Mein Magen ließ sich zu einem Knurren hinreißen, das mich in feinere Gesellschaft sicherlich disqualifiziert hätte. Zu meiner Verteidigung muss gesagt werden, dass ich in der vergangenen Nacht – aus übertriebener Vorsicht, wie ich gerne zugebe, denn natürlich kannte ich die Geschichten über jene armen verlorenen Seelen, die Trank und besonders Speis in Feenland angenommen hatten, auch wenn Wilde mir versichert hatte, ich könne dort unten bedenkenlos zugreifen – nichts gegessen hatte. Bei Anblick der morgendlichen Köstlichkeiten aus Mrs. Hudsons Küche merkte ich erst, wie hungrig ich nach den Erlebnissen der letzten Nacht tatsächlich war. Darüber hinaus erfüllte das üppige Frühstück noch einen anderen Zweck, der mir nach den nicht weniger üppigen Eindrücken meines nächtlichen Ausflugs sehr entgegenkam: Denn egal wie ereignisreich ein Tag war und wie turbulent und zuweilen sogar grauenhaft er womöglich endete – wenn Holmes und ich morgens am Frühstückstisch beisammensaßen, war da dann doch immer viel Platz für behagliche, beruhigende Routine, die einem die nötige Gelassenheit zurückbrachte, um sich den Dingen mit einer anderen Perspektive und weniger Verzweiflung oder Verbissenheit zu nähern. Das Sprichwort, dass die Welt am Morgen stets anders aussieht, hat meiner Erfahrung nach nicht allein mit den paar Stunden Abstand durch den Schlaf zu tun, sondern auch mit einem ordentlichen Frühstück.

Mrs. Hudson hätte dem sicher beigepflichtet, egal welche Ressentiments sie derzeit gegenüber ihren beiden Mietern in 221B hegte.

Auch an diesem kalten, grauen Novembermorgen hatte mich die heimelige Routine bereits nach der zweiten Tasse Kaffee – schwarz wie die Nacht; seit Afghanistan trank ich ihn ohne Zucker oder Milch – wieder, und so machte ich mir nach dem Frühstück sogar ein paar erste Notizen zu den Vorkommnissen im Fall des verschwundenen Königsschwertes und der letzten Nacht, was mir beides gleichsam beim Verarbeiten half.

Kaffee und Tinte als Therapie, wenn man so möchte.

Am Frühstückstisch erfreuten Holmes und ich uns meist an der stillen Kameradschaft des anderen, während jeder von uns seinen eigenen Angelegenheiten nachging, bis die Kaffeekanne mindestens zur Hälfte geleert und die Zeit einer Überschneidung unserer Gedankenwelten angebrochen war.

Sobald Holmes mit Lesen und Verstümmeln der Morgenausgaben von Times, Standard, Telegraph und Co. fertig war, ging mein Freund in der Regel bereits dazu über, seine Post zu sortieren. Der Detektiv bekam jeden Morgen einen ganzen Stapel Briefe, Postkarten und Telegramme, mit Poststempeln und Briefmarken aus aller Welt. Tag für Tag galt es, von Neuem zu entscheiden, welches Schreiben sofortiger Beschäftigung oder Antwort verlangte und welches er mit dem Dolch auf den Kaminsims pinnen konnte. Dabei sog Holmes genüsslich an seiner Pfeife, die er mit dem widerlichen Shag-Tabak vom Vortag gestopft hatte, der auch an diesem Morgen in seinem einsamen persischen Pantoffel darauf gewartet hatte, die abartigen Rauchgelüste meines Freundes zu befriedigen.

»Etwas Interessantes dabei?«, fragte ich, derweil ich mir überlegte, ob ich Shermans außergewöhnliches Haustier bei einer späteren Niederschrift des gegenwärtigen Falles erwähnen sollte oder lieber nicht. Insgeheim hoffte ich außerdem, dass mein Klient aus dem Kaiserreich mir vor seiner Abreise noch eine traurige, aber dankbare Antwort geschickt haben mochte, die sich in Holmes’ Morgenpost befände.

Holmes sah nicht von den aufgefächerten Schreiben auf, die er wie ein professioneller Kartenspieler aus Deadwood in der Hand hielt und mit spitzen Fingern sortierte. »Sie meinen, etwas, das Sie auf Ihren romantischen Streifzügen in die Gefilde der Trivialliteratur ausschlachten könnten?« Der Detektiv lächelte nicht. »Hier hätten wir einen Brief aus Amerika. Es scheint mal wieder Ärger um Mr. Pembertons Formel zu geben. Alle wollen sein Getränk. Muss am Kokain liegen«, fügte Holmes trocken hinzu.

Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu, doch schien mein Freund nicht geneigt, sein verdammenswertes Laster an diesem Morgen weiter zu thematisieren, und lenkte meine Aufmerksamkeit stattdessen auf eine andere Nachricht in seinem Postfächer.

»Wann werden Sie Mr. Ritchie eigentlich endlich ganz offen sagen, dass Sie keine Adaption Ihrer Geschichten auf der Bühne sehen wollen, Watson? Inzwischen vergeht keine Woche, da er mich nicht in einem Brief bekniet, Ihnen ins Gewissen zu reden. Ihre Hinhaltetaktik scheint bei ihm nicht zu fruchten. Er ist hartnäckig. Und er hat Talent. Ich habe einige seiner Stücke gesehen.«

»Wie die meisten Schriftsteller ertrage ich es schon kaum, meine eigenen Werke noch einmal zu lesen, wenn sie gedruckt wurden, Holmes. Wie soll das erst sein, wenn sich ein anderer meiner Texte annimmt und sie auf der Bühne zum Leben erweckt?«

»Vielleicht tut eine frische Perspektive Ihren kleinen Fantasien ja sogar ganz gut? Aber was weiß ich schon von Literatur, was?« Der Detektiv schmunzelte mephistophelisch in sich hinein. »Und was haben wir denn hier? Eine Dankeskarte von Mr. Stevens, abgestempelt in Paris! Hm-mh. Er lässt Sie grüßen, Watson. Sie erinnern sich doch sicher noch, nicht wahr? Ich glaube, Sie haben den entsprechenden Fall sogar zu einer Ihrer Geschichten gemacht, die Mr. Conan Doyle dem Strand bisher nur nicht schmackhaft machen konnte. Radau im Rosenbeet war der Titel, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt.«

Diesmal war ich es, der das Thema nicht weiter vertiefte. Holmes mit seinem geradezu fotografischen Gedächtnis wusste so gut wie ich, dass ich die betreffende Episode als Der Fall des Rosenzüchters niedergeschrieben habe. Holmes hatte Mr. Stevens damals dabei geholfen, nachzuweisen, dass Stevens und nicht sein Kollege Mr. Jones der Erste gewesen war, der die edle Rosensorte Betty Page gezüchtet hatte; Holmes hatte die wahre Herkunft der gestohlenen Rose anhand von Blattläusen belegen können, die es nur in Stevens Gewächshaus gab. Ich werde nie das Gesicht des sympathischen Mannes vergessen, als Holmes ihm sagte, er solle sich bei seinen Blattläusen bedanken!

Dennoch erinnerte mich die Erwähnung der kleinen Schädlinge etwas zu sehr an meine Begegnung mit den Jacks gestern Nacht, und so wollte ich schnell das Thema wechseln. Diese Dinge niederzuschreiben, war eines – Holmes womöglich mit meinem Unbehagen auf eine Fährte zu stoßen, etwas anderes.

»Was macht Stevens in Paris?«

Holmes paffte einmal, ehe er antwortete. »Wie es aussieht, haben er und seine Betty bei einer Gartenschau in Paris den ersten Preis gewonnen. Wobei ihn die Ehre und der Sieg mehr erfreuen als der eigentliche Hauptgewinn, wenn ich das hier richtig interpretiere. Sein Preis scheint laut Mr. Stevens nämlich ein Rundflug mit etwas zu sein, das er hier als halsbrecherischen Rucksack mit Dampfturbinenantrieb beschreibt. Hm! Faszinierend!«

»Würden Sie etwa mit so einem Ding fliegen?«, fragte ich Holmes entsetzt.

»Das kommt ganz darauf an«, gab mein Freund sardonisch zurück und schritt durch den Salon, wobei er einigen hoffnungslos überladenen Beistelltischchen mit allen möglichen chemischen Aufbauten und sonstigen Experimenten sowie mehreren Buchstapeln auf dem Boden ausweichen musste. Am Kamin angekommen, zog er den Dolch wie Excalibur aus dem Sims, legte die neuen Briefe und Karten auf die bereits dort abgelegte Post und spießte den neuerlich angewachsenen Stapel unbeantworteter Korrespondenz erneut auf. Anschließend wandte er sich mir mit ernstem Gesicht zu. »Könnte ich damit Moriarty überführen, würde ich mich sogar auf den Rücken eines Pinguins setzen und mit ihm vom Victoria Tower stürzen und um die Wette flattern, Watson.«