Seit einigen Jahren lebt der 1954 geborene Amerikaner Bruce Sterling, der neben William Gibson zu den Pionieren des Cyberpunk gehört, im texanischen Austin, im kroatischen Belgrad und im italienischen Turin. In seiner Novelle »Pirate Utopia«, die mit einem Vorwort von Warren Ellis als Hardcover und E-Book bei Tachyon Publications erschienen ist, wendet Sterling sich also ganz bewusst der Italienischen Regentschaft am Quarnero bzw. dem Freistaat Fiume zu, der in den 1920ern nach dem Ersten Weltkrieg kurzzeitig existierte.
Sterling macht ihn in seinem Alternativwelt-Szenario zu einem Utopia für Futuristen, die an eine neue sozialistische Weltordnung für das 20. Jahrhundert glauben und sie am liebsten allein mit ihrer Kunst und ihren Gedichten heraufbeschwören würden. Nur wenige – wie der Piraten-Ingenieur Lorenzo Secondari – wissen, dass es für solche Kursänderungen Torpedos braucht, die idealerweise fliegen, und am Besten noch tödliche F-Strahlen.
Dabei präsentiert das von Michael Moorcock, Nick Mamatas, Lavie Tidhar, James Morrow, Alastair Reynolds und anderen Genre-Größen in höchsten Tönen gelobte »Pirate Utopia« eine Art Dieselpunk-Parallelwelt: Adolf Hitler wird in einem Nebensatz gekillt, H. P. Lovecraft und Robert E. Howard arbeiten für den amerikanischen Oberspion/Bühnenmagier Harry Houdini und werben für das Manhattan Project, und auch sonst ist alles ganz kurios. Nie hundertprozentig zwingend, aber immer kurios, und immer mächtig ironisch.
Den Schlüssel zur Geschichte gibt es allerdings erst im Anhang, der aus einem Nachwort des Autors und Redakteurs Christopher Brown, einer Nachbemerkung des treffsicheren Illustrators John Coulthart und vor allem einem langem Interview mit Bruce Sterling selbst besteht. In diesem Interview ordnet er »Pirate Utopia« als seinen umfeldbedingten Beitrag zum italienischen Sujet der fantascienza ein – und als allegorische Warnung, die im grotesk verzerrten Spiegelbild der Alternativwelt und der Alternate History zeigen soll, wie sehr die heutige Politik ihren Bezug zur Wirklichkeit verloren hat, wie leicht sich extreme politische Ideologien vermischen können, und wie heftig die Menschen nach individuellen Lebensmodellen und Lösungen suchen.
Kein einfaches Buch, sogar ein äußerst merkwürdiges Buch, aber auch ein unbestreitbar außergewöhnliches und cooles, herrlich durchgestyltes Buch, das besonders als Hardcover einiges hermacht.